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Dridge's Reviews > Gier. Ein Unterhaltungsroman

Gier. Ein Unterhaltungsroman by Elfriede Jelinek
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Da kann die Sprache noch so interessant sein (dazu später ausführlich mehr), „Gier� interessiert den Leser nicht im geringsten: aufgrund von Jelineks Erzählstil schaffen es die 462 Seiten nicht, mehr als 5 oder 6 Ereignisse im Gesamten zu erzählen. Warum? Jelinek entscheidet sich in diesem Buch für einen sehr ausufernden, fortschwemmenden (um an das Hauptmotiv des Wassers anzuknüpfen, mit der Geschwindigkeit von 20 Knoten, haha!) � das Bezugsthema schwimmt fort, und das Bezugsobjekt auch � Erzählstil, bei dem jeglicher Inhalt im Boden des Lebens versickert. So oder so ähnlich würde sie es wohl ausdrücken. Dieser Art von Stil zieht sich durch das gesamte Buch.

Nur als Beispiel: In folgender Szene geht es darum, dass Polizisten wegen der verschwundenen Gabi eine Hausbefragung im Dorf durchführen. Stattdessen hangelt sich Jelinek hier von einem Gedanken zum anderen über das Thema Gott hindurch. Im Folgenden eine lange Passage. Wer mag, kann gerne weiterspringen (S. 413f):

Es ist alles gesagt, vielleicht hat einer zuviel gesagt und hält sich jetzt erschrocken die Hand vor den Mund, aber Gott ist sein Sohn ja auch ständig im Weg, der ist einfach jünger und fescher als er, er hat einen Haufen Jünger um sich geschart, auf die er scharf ist, und Gott bereut schon, ihn wieder zu sich zurückgeholt und in sich aufgenommen zu haben. Dadurch wurde er zwar selber jünger, zumindest sieht er so aus, aber es macht auch mehr Mühe, mit der Jugend mitzuhalten, bis man 47 ist. Jesus will Sport machen, Jesus will sich Arbeit machen und Seelen holen, Jesus zerrt ununterbrochen Irrtümer herbei und bastelt ewige Wahrheiten daraus zusammen, der Heimwerker, na, sehr geschickt geht er dabei nicht vor. Und die Gendarmen gehen derzeit unermüdlich von Haus zu Haus und machen Befragungen, das müssen sie auch selber machen, das nimmt ihnen keiner ab. Erzählungsgeröll prasselt auf sie herab, manchmal abgelöst von verstocktem, hartnäckigem Schweigen, wie der Steinschlag beim launischen Neuberger Felsen, von dem es auch manchmal tagelang heruntergedonnert kommt und dann tagelang wieder nicht, und Autodächer mit Dellen verziert, da hat der Herr Gott aber schönere Verzierungen, ganze Strahlenkränze, die er sich abbrechen könnte, wenn er sich in unsere Leben zu sehr einmischt. Er tut es eh nicht. Hier ist das Büro der Firma, in der die Gabi beschäftigt gewesen ist, und auch hier hängt er schon, der Gekreuzigte, im Chefbüro, nicht am Sand, aber im Eck hängt er. Ein modern ausgeführtes schlichtes Kreuz, das in einem Kunstgewerbeladen gekauft worden ist und vor Stolz über seinen stolzen Preis fast aus den Schrauben platzt, mit denen das prominente Opfer an seinem Gerät befestigt ist, das, glaube ich, inzwischen unsterblicher ist als der Sportler drauf, den könnten wir glatt weglassen; ja, Sie sehen richtig: darunter eine Kerze und eine Vase in Herzesform, in der ein Puschel Strohblumen steckt, so gefällt es der Chefsekretärin, die sich von allen anderen Frauen in der Firma unterscheidet und diesen Unterschied in ihrer Erscheinung gern betont, so hat sie z. B. ihre Frisur mit Haarlack betoniert.


An diesem großen Auszug sieht man schon die typischen Schreibvarianten:
Die Erzählerin stellt extrem häufig einen Ich-Bezug her.
Die Sprache gerät stellenweise ins Mundartliche.
Die Sätze sind irre lang; dabei werden eine Apposition und ein Relativsatz an die andere gereiht. Sie werden häufig sogar ineinander verschoben, sodass der eigentliche Hauptsatz quasi verschwindet. Jelinek kommt wortwörtlich einfach nicht auf den Punkt, stattdessen setzt man lieber einfach noch ein Komma mehr.

Positiv fallen jedoch die Wortspiele und Metaphern auf � dies erstaunt mich umso mehr, da ich doch dachte, dass das Inventar an möglichen Wortspielen im Deutschen reichlich beschränkt sei. „Gier� belehrt mich darin aber eines Besseren � leider zu oft des Guten! Anstatt die Technik zur Zier zu krönen, wird die Zier zum Hauptelement. Wann immer ein Umweg möglich ist, wird dieser auch gemacht. In den besten Fällen entstehen damit dichte Passagen wie diese (man beachte die Wortfelder „Grund�, „tief� und „fremd� / S. 311):

Sie wissen im Grunde nichts. Sie wissen nicht, daß Gabi auf dem Grunde des Sees ruht, was nicht sehr tief ist. Ja, die Gedanken sind manchmal tief, aber die Gründe, die einen zur Tat schreiten lassen, sinds oft nicht. Der Gendarm ist etwas wie ein Fremdenführer, nur daß er als einziger niemals einen Fremden führen würde, wenn nichts für ihn dabei herausspringt.


Oder die folgende Passage zum Thema Gefäße (S. 447):

Wie diese leere Schale, die sie ohne ihn ist, die Frau, diese trübe Tasse, die mit nichts als sich selbst gefüllt ist und sich nicht einmal selbst bis auf den Grund sehen kann, warum sie sowas macht. Sie sieht ihren Boden nicht mehr. Sie hat sich ausgeschüttet, aber niemand hat sie aufgewischt. Vielleicht ist das alles eine Form von Wahnsinn, na, eher ein Förmchen, in das die Kinder ihren Sand pressen, um ihn dem Nachbarn aufs Auge zu drücken.


Der Durchschnittsleser nennt dies aber sicherlich eher „das blöde Ösigeschwurbel�. Der Brite dagegen „stream of consciousness�. Oder wie der Schwede sagen würde: „Literatur-Nobelpreis 2004�.

Isoliert betrachtet erscheint dies genial; 460 Seiten davon sind allerdings deutlich zu viel. Und dabei ist die Sprache noch lange nicht gut genug, um all die fehlenden Punkte zu überdecken, die echte wertvolle Literatur ausmachen: packende Charaktere; wahre Aussagen und Beobachtungen über die menschliche Situation; eine interessante Handlung; ergreifende Momente; und und und.


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Reading Progress

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July 1, 2016 – Finished Reading
July 2, 2016 – Shelved

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