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Blindlings by Claudio Magris
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it was amazing
bookshelves: italia

Die rote Fahne und das goldene Vlies, Symbole des Aufbruchs, enden als zerrissene, blutige Fetzen im Dreck der Geschichte. Ist die Hoffnung auf Frieden und ein besseres Leben nur ein frommer Wunsch? Ein Traum, der unweigerlich mit Verrat und Brudermord endet, oder in den Todeslagern von Port Arthur, Dachau oder Goli Otok?

Salvatore Cipico, Sohn eines nach Australien emigrierten Italieners und einer Tasmanierin, sitzt in einer psychiatrischen Klinik in Triest seinem Psychiater gegenüber und spricht sein Leben auf Band. Als Beruf gibt er Gefangener an - für den alten Mann dürfte das sein letztes Verhör sein. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens war er im spanischen Bürgerkrieg und hat Dachau überlebt. Nach dem Krieg schickte ihn die Partei nach Jugoslawien, wo er nach dem Bruch Titos mit Stalin auf der Gefängnisinsel Goli Otok interniert wurde, in Titos Gulag.


[Das jugoslawische Internierungslager für politische Gefangene auf Goli Otok]

In einem 400-Seiten langen, wirren Monolog voller Ausschweifungen und Ablenkungen versucht Cipico die Scherben seines Lebens zusammenzusetzen. Seine Persönlichkeit löst sich bereits auf und vermischt sich mit der historischen Biographie , einem dänischen Abenteurer, der 1809 für wenige Wochen sogar König von Island war. So wie Cipico war auch Jørgensen regelmäßig Gast diverser Gefängnisse und wurde zuletzt nach Port Arthur in Tasmanien verbannt.

Auch ich bin daran gewöhnt, viele Namen zu haben - sie fallen einer nach dem anderen, aber nach jedem kommt wieder einer, und wenn einer tot ist, lebt der andere, und so fort; und so vermischt man die Karten sämtlicher Polizeistationen der Welt.

Mit großer Geste und tönender Metaphorik mischt er Erinnerung mit Einbildung, historische Details mit Schmerz und Verzweiflung. Er verschränkt persönliche Geschichten mit der Geschichte Europas - Revolutionen, Eroberung, Zusammenbruch und Zerstörung. Und dazwischen immer wieder Fragmente aus der Sage von Jason und den Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, wie um den ganzen Scherbenhaufen zusammenzuhalten.

Es ist schon ein gewaltiger Wortschwall, der einem hier entgegenflutet, im wahrsten Sinn der Worte, denn das Meer ist im Text allgegenwärtig, sozusagen die epische Übermetapher für das Leben, auf dem wir, mit unseren Gefährten in der Argo sitzend, herumgebeutelt werden.

Ach, wenn es allein das Meer gäbe, das Meer ohne auch nur eine Insel, auf dem ein Fuß eine Spur von Schmerz hinterlassen könnte.

Die Seefahrt ist nichts für Weicheier, es ist eine maskuline Welt, an Bord zählen nur Härte, Todesverachtung und Gehorsam. Das Weiche, das Weibliche ist den Träumen der Seefahrer vorbehalten. Maria (der Name ist Programm) und Salvatore Cipico haben sich in Fiume kennengelernt. In der Erinnerung ist sie nur eine Spiegelung in der Drehtür des Cafés, wo sich die beiden verabredeten. Maria ist das unerreichbare Ziel der Sehnsucht, und immer wenn dieses Spiegelbild auftaucht, beruhigt sich auch die Dünung der Worte. Maria ist das Sinnbild für die Hoffnung auf Heilung in dieser Welt, für den Glauben an das Gute, trotz ewigem Schiffbruch.

Es fällt mir nicht ganz leicht, das Buch zu bewerten. Es ist ohne Frage einzigartig, äußerst virtuos aufgebaut und auf jeden Fall ein Meisterwerk. Hochinteressant sind die historischen Zutaten, die zu weiterführenden Recherchen anregen. Über die Ungeheuerlichkeiten in Tasmanien hatte ich zwei beeindruckende Romane gelesen und war schon vorbereitet (siehe
Richard Flanagan - Goulds Buch der Fische und
Matthew Kneale - Englische Passagiere).
Ganz besonders abenteuerlich und spannend fand ich die Geschichte des Jørgen Jørgensen, von dem ich bis dato noch gar nichts gehört hatte.
Und zu dem weitgehend unbekannten Straflager auf Goli Otok fand ich eine erschütternde Doku auf Youtube. Auf der kroatischen Insel nahe Rab belustigen sich heute Feriengäste an den Ruinen des Lagers, die dort ohne jedes Mahnmal gnadenlos vom Tourismus vereinnahmt werden.


[Touristenattraktion auf der Gefängnisinsel Goli Otok]

Warum einen wecken, der schläft? Ich wäre so glücklich, wenn man mich in Frieden ruhen ließe; die Vorstellung ist grauenhaft, daß wir alle am Jüngsten Tag gemeinsam aufwachen müssen, an einem glücklichen letzten Tag, der jedoch zu einem unseligen ersten Tag wird, zum Beginn der Ewigkeit, des Lagers, das nie endet . . .

Die Sprache, mit der Magris seinen Protagonisten erzählen lässt, ist tatsächlich wie das Meer, gewaltig und schäumend. Das kann man auch als gefährliche Drohung sehen und es gab durchaus Stellen, wo ich mich an der Gischt fast verschluckte. Daneben gibt es aber auch die eine oder andere Flaute. Aber so eine Fahrt mit der Argo ist eben keine Kinderjause. Dankenswerterweise ist das Buch in 92 ziemlich kurze Kapitel gegliedert, was zu häufigen Pausen motiviert und die Anstrengung mildert.

Meine persönliche Beziehung zu der Gegend um Triest und Istrien macht die Anstrengung aber wieder wett und geht auf eines meiner eigenen, nicht unbedenklichen jugendlichen Abenteuer zurück:- unter der Fahne der Freiheit und des Größenwahns auf der Suche nach dem Goldenen Vlies, nur anders als Jason, ohne Gefährten und ohne Geld, zu Fuß auf dem Weg nach Griechenland und dauernd auf der Flucht vor der jugoslawischen Policija, das Übernachten im Freien war strengstens verboten, lernte ich solcherart die Küste zwischen Triest und Rijeka ziemlich gründlich kennen. Weiter als in das erwähnte Café in Fiume, dem heutigen Rijeka, bin ich nicht gekommen. Dafür blieben mir Titos Gefängnisse erspart. Verständlich, dass das heute sentimentale Erinnerungen weckt, und deshalb runde ich von vier auf fünf Sterne auf.
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Reading Progress

May 31, 2019 – Shelved
May 31, 2019 – Shelved as: to-read
November 4, 2019 – Shelved as: italia
January 28, 2020 – Started Reading
February 7, 2020 – Finished Reading

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