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Edgar's Reviews > Die Flucht ohne Ende

Die Flucht ohne Ende by Joseph Roth
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Die Geschichte einer Reise ohne anzukommen, einer Reise zu den Wurzeln, einer Reise zu sich selbst. Doch Franz Tunda findet nichts.

Das Werk ist ein Roman, doch was für ein Roman? Es hätte ein Kriegsroman sein können oder ein Revolutionsroman. Letzteres wurde sogar behauptet, aber auch wieder zurückgewiesen. Es ist kein Reiseroman, obwohl er eine Reise durch sechs Länder beschreibt, und auch keiner, der die Flucht als Weichen vor der Gefahr, als mühevolle Überwindung riesiger Distanzen beschreibt. Es hätte ein Abenteuerroman sein können. All das ist er nicht.

Nach einigem Nachdenken glaube ich, Joseph Roth (1894-1939) beschreibt die Mühe seines eigenen Lebens, seinen ständige Kampf um das wirtschaftliche Überleben und Anerkennung, die Erkenntnisse über die Menschen und Kultur, Literatur, Liebe usw. und verpackt sie in eine andere Struktur. Einzig der Alkohol, an dem er viel zu früh mit 44 verstarb, wird nicht erwähnt. Autobiographisches drängt sich nicht unbedingt auf, doch im Jahr bevor er diesen Roman 1927 schrieb, machte Roth eine Reise durch die Sowjetunion, die übrigens den vorher roten Joseph zu einen Monarchisten verwandelte. Aber das hat nichts mit dem Buch zu tun.

Das Buch startet im Jahre 1916 im ostsibirischen Irkutsk, wo der österreichische Oberleutnant Franz Tunda (*1894, also damals 22-jährig) aus der russischen Kriegsgefangenschaft flieht. Ich fragte mich, was der Junge so weit im Osten macht, immerhin liegt das nördlich von der Mongolei und bis dort ging keiner der beiden Weltkriege. Er muss wohl dorthin verschleppt worden sein. Da Tunda Sohn eines österreichischen Vaters und einer polnisch-jüdischen Mutter war, traf es sich gut, dass er beim Polen Baranowicz in Werchne-Udinsk, dem heutigen Ulan-Ude, auf der anderen Seite des Baikalsees unterkam, etwa nördlich von Vietnam. JWD sagt man auf Deutsch dazu, ganz weit draußen (übersetzt). Was ein Pole da machte, wird nicht thematisiert. Es traf sich aber gut. Die beiden jagten zusammen und lebten in der Taiga. Tunda ging als jüngerer Bruder des Baranowicz durch. Tunda fühlte sich wohl. Ein einfaches, ursprüngliches Leben weitab der Zivilisation.

Die eigentliche Flucht aus der Gefangenschaft war also schon bei Baranowicz beendet. Als die Sehnsucht nach seiner Verlobten Irene Hartmann in Österreich und der Heimat aber stärker wurde, machte sich Tunda etwa 1917 auf in die Heimat. Es war ein langer Weg, der ihn über die Ukraine zunächst in die Wirren des russischen Bürgerkriegs führt, Rote gegen Weiße. Er wird gefangengenommen, befreit und kämpft eine Weile als Revolutionär, lebt in Moskau. Danach geht er nach Grusinien, russischer Name Georgiens, wo angeblich Baku liegt. Nicht wirklich, aber in der Nähe. Dort heiratet Franz Alja und hat eine Affäre mit Frau G. aus Paris. Bislang hatte er vier Frauen, die Revolutionärin Natascha habe ich ausgelassen.

Nach einer Weile will er dann aber doch nach Hause. Im Moskauer Konsulat Österreichs verschafft man ihm anstandslos die nötigen Papiere und die Fahrkarte nach Wien. Doch Irene ist nicht in Österreich. Man sagt, sie lebt verheiratet mit Kind in Paris, wo auch Frau G. lebt. Über eine Stadt im Rheinland, vermutlich Bonn, wo sein Bruder Georg Kapellmeister ist, und Berlin, wo Tunda sich mit Joseph Roth trifft, geht es nach Paris.

Soweit die Struktur. Viele Orte in sechs Ländern. Vier Frauen. Ein polyglotter österreichisch-polnischer Jude. Eine lange Reise. Joseph Roth hätte diese Struktur nun mit jeder der oben genannten Geschichten und Möglichkeiten füllen können, doch Land und Leute werden außer im Rheinland und in Paris nur wenig betrachtet. Auch die Figuren bleiben weitgehend oberflächlich. Im Wesentlichen füllt Roth die Leerräume der Struktur mit Gedanken und Beobachtungen über Frauen, die Liebe, das Leben, Gesellschaft, Geld und Einkommen, Kultur und Literatur.

Kritisch wird er eigentlich nur über die Deutschen, andererseits ist es aber auch das einzige Mal, wo er etwas ausführlicher wird. Über Österreich, die Österreicher, die zusammengebrochene Monarchie sagt er so gut wie gar nichts. Mag sein aus Rücksicht, um negative Reaktionen zu vermeiden, mag sein aus Mangel an Interesse. Keine Ahnung. Jedenfalls wird das asiatische Leben mit dem europäischen kontrastiert und das "europäische" (gemeint ist das westeuropäische, also das deutsche und französische) als dekadent-unecht und übertrieben regelbasiert abklassifiziert.

Franz Tunda verliert sich auf dieser Reise. Ihm kommen die eigenen Wurzeln, Werte und Ziele abhanden. So sehr sogar, dass er auf einer der letzten Seiten seiner früheren Verlobten Irene begegnet und die beiden einander nicht erkennen. Völlig pleite und ohne Hilfe, aber auch ohne Motivation und Interesse verliert sich seine Spur im Nichts.

Ich will das Buch nicht deswegen kritisieren. So ist eben das Konzept von Joseph Roth. Ich hätte mir viele andere Bücher in dieser Struktur vorstellen können. Aber auch so, wie es ist, ist es gut. Interessant ist die Erzählperspektive. Wir haben einen doppelten Ich-Erzähler, nämlich Franz Tunda und Joseph Roth, die einander abwechseln und sich auch Briefe einander schreiben. Das ist, glaube ich, das erste Mal, dass mir diese Konstellation unterkommt. Interessant.

Die Rollen und Charaktere der Frauen - die Ehefrau des Bruder Georg, Klara heißt sie, kommt noch hinzu - sind noch erwähnenswert. Ich Gegensatz zu Tunda haben alle Frauen ihr Leben im Griff, jede weiß, wohin sie gehört, was jetzt aber nicht unbedingt eine generelle Eigenschaft von Frauen zu sein scheint. Keine braucht einen gelernten Beruf, um akzeptiert zu werden. Gut, keine von ihnen hat die identitätsstiftende Position als Offizier und die Armee als Lebensrahmen verloren, aber alle wissen zu überleben, sogar Alja als ihr Vater stirbt und sie niemanden mehr hat. Dann geht sie eben zu Baranowicz als "nächsten Verwandten". Apropos, ich hätte es besser gefunden, wenn Tunda zu Alja zurückkehrt und er sie nicht einfach in Baku bzw. Sibirien bei Baranowicz zurücklässt.

Fazit: knappe vier Sterne, nicht ganz. Der Roman bleibt unter seinem Potenzial angesichts des geographisch sehr weiten Rahmens und der vielen Personen, die zu vertiefen gelohnt hätten. Tausend Seiten mehr wie bei Tolstoi hätten Raum dazu geboten. Aber als Panorama des Nachkriegseuropa 1916-1926 auch so ganz interessant.
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September 21, 2023 – Shelved as: to-read
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September 26, 2023 –
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0.0% "Joseph Roths viertes Buch, den Kurzroman "Der blinde Spiegel" von 1925 habe ich nicht und finde ich auch nicht online, sodass ich weiter zum nächsten Roman gehe, seinem fünften. Wider Erwarten geht es nicht um die Flucht von Juden, sondern der eines österreichischen Offiziers aus russischer Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg. Eine ähnliche Geschichte habe ich schon einmal gehört, ich glaube es gibt mehrere solche."
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