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Semjon's Reviews > Was bleibt

Was bleibt by Christa Wolf
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Welche Rolle würde ich in einem totalitären Überwachungsstaat einnehmen? Wäre ich Angepasster, Mitläufer, treuer Ergebener oder Revolutionär? Wäre ich Opfer, Täter oder Zuschauer? Ich habe mir diese Fragen oft gestellt, wenn ich die Verwandtschaft in der DDR besuchte, die ganz sicher nicht zu den Opfern zählte. Wie hätte ich reagiert, wenn ich auf ein Spitzeltätigkeit angesprochen wäre, mit einem eventuellen Versprechen auf den erhofften Studienplatz? Zu sagen, ich hätte die Rolle des Widerständler eingenommen, wäre einfach und schön. Ich würde es mal hoffen, dass ich den Mut gehabt hätte.

Christa Wolf hatte den Mut offensichtlich nicht. In den Nachrufen nach ihrem Tod 2011 gab es immer wieder Hinweise auf die Ambivalenzen in ihrem Lebenslauf. Von kraftvoller Autorin bis" DDR-Staatsschreiberin" (MRR) war die ganze Bandbreite dabei. Ich kann mich erinnern, wie sie kurz nach der Wende vor Tausenden auf dem Alex stand und für einen erneuerten Sozialstaat warb. Sie wurde nicht gehört. 1990 veröffentlichte sie dann die Erzählung WAS BLEIBT, die sie größtenteils bereits 1979 geschrieben hatte. Darin geht es um den Tag einer Schriftstellerin in Ost-Berlin, die unter ständiger offener Überwachung durch das MfS zu leiden hat. Während sie in ihrer Wohnung sich auf eine Lesung am Abend im Kulturzentrum vorbereitet, stehen die jungen Herren im Wartburg vor ihrer Wohnung und beobachten sie. Die Stasi-Leute wissen, dass die Autorin von der Bespitzelung weiß und auch die Autorin winkt ihren Beobachtern scherzhaft zu. Ihre Wohnung wurde durchwühlt, Spiegel zerbrochen, sie kann nur noch in Codes mit Freunden reden. Alles wirkt wahnsinnig bedrückend. Am Abend bei der Lesung setzten sich die Spitzel ganz offen ins Publikum und ihre eigentlichen Fans werden draußen vor der Tür von der Polizei verjagt.

Die Erzählung als solches fand ich hervorragend. Das Gefühl der Überwachung und der Einengung wurde wunderbar in Worte gefasst. Unter diesen Gesichtspunkten ist es sogar fünf Sterne wert. Im Gegensatz zu dem von mir wenig geschätzten KINDHEITSMUSTER, wo Wolf sich ausschließlich in Erinnerungen, also in der Vergangenheit bewegt, spielt die vorliegende Erzählung im Hier und Jetzt. Das kann sie besser.

Nach der Veröffentlichung entstand ein deutsch-deutscher Literaturstreit um die Verantwortung der Intellektuellen in der DDR. Warum hat Christa Wolf nicht den Mut aufgebracht, diese Erzählung schon früher zu publizieren? Der Text wäre 1979 wichtiger gewesen als 11 Jahre später. Stellt sie sich zurecht als Opfer dar, wo sie doch ein Jahr später ihre IM-Tätigkeit auf Druck der Gauck-Behörde veröffentlichte.

"In jener anderen Sprache, die ich im Ohr, noch nicht auf der Zunge habe, werde ich eines Tages auch darüber reden. Heute, das wußte ich, wäre es noch zu früh. Aber würde ich spüren, wenn es an der Zeit ist?" , schreibt sie in der Erzählung. Sie will irgendwann mutiger sein, doch 1990 war wohl nicht mehr der richtige Zeitpunkt dafür. Da wirkte es nachtragend und feige für viele Kritiker. Ich habe meine 4-Sterne-Bewertung ganz alleine auf den Text bezogen, ohne die Hintergrundgeschichte zu bewerten. Denn wie schon am Anfang gesagt: Wer bin ich, dass ich Frau Wolf für ihr Verhalten kritisieren kann? Ich wüsste ja selbst nicht, ob ich mutig gewesen wäre.
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Reading Progress

March 25, 2018 – Shelved
February 19, 2019 – Started Reading
February 19, 2019 – Finished Reading

Comments Showing 1-9 of 9 (9 new)

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Lisa Schöne Review, Semjon! Wenn ich ehrlich bin, finde ich die Diskussion um den Mut von Wolf und Grass ermüdend. Im Anbetracht der wechselnden Diktaturen und Kriegserlebnissen, die sie als Kinder und Jugendliche durchlebten, würde ich sagen, dass sie sich dem Kern ihres Traumas schrittweise genähert sind. Sophie Scholl hat nicht lange genug überlebt um ihre Zeit in der Hitlerjugend zu bearbeiten... Held sein ist eine extreme Entscheidung. Wolf war ein Familienmensch.


Semjon Danke Lisa. Im Feuilleton Anfang der 90er wird nie über die literarische Qualität des Buchs gesprochen, immer nur über ihr zwiespältiges Leben. Das ist bedauerlich. Wenn ich etwas gelernt habe, seit dem ich hier auf GR unterwegs bin, dann die Kunst, Werk und Autor voneinander zu trennen. Das fiel mir früher schwerer. Ich denke auch, dass Christa Wolf ein sensibler Mensch war.


message 3: by Anika (new)

Anika Ganz tolle Review, chapeau!


Semjon Danke Sadie


message 5: by Peter (new)

Peter Ich habe Deinen Review mit Gewinn gelesen, Semjon und stimme Dir zu, dass wir modernen Westler uns in unserem Urteil über Lebensbiographien in der Diktatur zurückhalten sollten. Schon das "sich arrangieren" ohne das eigene Rückgrat ganz zu verlieren war, wie das Beispiel von Christa Wolf zeigt, eine Wanderung auf dem Grat. Andererseits steigt meine Bewunderung für diejenigen, die sich nicht biegen ließen und dafür sogar Inhaftierung oder Exil in Kauf nahmen.


Semjon Ich glaube, dass du mit dem Lesen des Buchs noch viel mehr gewinnen kannst. ;-) Danke fürs Feedback


message 7: by Peter (new)

Peter Semjon wrote: "Ich glaube, dass du mit dem Lesen des Buchs noch viel mehr gewinnen kannst. ;-) Danke fürs Feedback"

In diesem Fall zweifelsohne, obwohl ich durch das Lesen Deiner negativen Reviews noch mehr gewonnen habe, nämlich die Zeit, die ich sonst auf das Buch vergeudet hätte :-) Die ausgewogene Subjektivität Deiner Reviews liegt mir sehr.


Semjon Ausgewogene Subjektivität 🤔 hmm, selten wurde meine vorurteilsbehaftete, unsachliche Befangenheit eleganter beschrieben. 😉


message 9: by Alexandra (new)

Alexandra Ich hatte ja auch so meine Troubles mit Kindheitsmuster, weil es so verkopft und konstruiert war, das scheint zeitnäher und authentischer zu sein. Vielleicht sollte ich Wolf nach meinem 2. Fehlversuch doch noch nicht ganz aufgeben


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