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Das Blut der Anderen
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Großartiger Roman. Klar, ein "Thesenroman", in dem die Figuren verschiedene Konzepte der Existentialphilosophie nach Sartre/ de Beauvoir vertreten, aber dennoch nicht "trocken" oder gar abstrakt. Die Figuren leben und stehen vor Entscheidungen, die damals wie heute viel Menschen zu treffen hatten und zu treffen haben. Sie machen nur eben das, was Otto-Normalverbraucher gewöhnlich nicht tut- sie reflektieren. Kurz, ein "sentimentalisches" Buch ganz im Schiller'schen Sinne und damit hochmodern. Um welche Entscheidungen geht es? Geworfen in ein Jahrhundert und eine bestimmte Zeit, kann sich das Subjekt die Umstände seines Lebens nicht aussuchen. Zunächst versucht Jean daher seiner bourgeoisen Herkunft zu entkommen, was nicht gelingt, denn obwohl er KPF- Mitglied wird und Arbeit in einer Druckerei findet, bleibt er doch vom Habitus her und wegen seines Bildungshorizonts vom Proletariat ausgeschlossen. Er tritt aus der KPF wieder aus, weil - und darum dreht sich das Ganze - diese Menschen nur als Verschiebemasse der Politik betrachtet. Die Frage, die Jean nicht beantworten kann, ist, wie man über das Leben "der Anderen" verfügen, diese z.B. in einen Streik oder in den Krieg schicken kann. Interessant, dass sich Militärs und alte Politiker diese Frage kaum stellen! Nun wäre das kaum weiter von Interesse, wenn Jean nicht erkennen müsste, dass das Dilemma auch im privaten Bereich existiert. Er will nicht handeln, will nicht "schuldig" werden, wird es aber durch seine bloße Existenz. Existieren ist schuldig sein- jetzt habe ich den tiefen Sinn der biblischen "Erbsünde" endlich verstanden! ;-) Was kann er schon tun, wenn sich eine Frau in ihn verliebt, der er das weder nahe gelegt hat noch gestatten wollte? Immer passiert etwas allein dadurch, dass er mit Anderen zusammen lebt, ihnen begegnet, auf sie re-agiert. Für eine kurze Zeit ist er glücklich, denn als der Krieg beginnt wird er Soldat und muss nichts entscheiden. Andere entscheiden nun für ihn. Aber Frankreich verliert und der erhoffte Sieg über den Faschismus kommt nicht zustande. Jean muss sich nun endgültig entscheiden, ob er unpolitisch bleiben, oder kämpfen, ob er Verantwortung für (und auch gegen das Leben) der Anderen übernehmen will, oder nicht. So oder so kommt "Das Blut der Anderen" über ihn. Dabei ist das Ganze eingebettet in die Geschichte vom langsamen Sterben seines weiblichen Gegenparts, weswegen die Andeutung der Handlung auch kein Spoiler ist: Man weiß ohnehin von Anfang an, wie Jean sich entschieden hat und wie seine Liebe zu Helene enden wird. Dennoch, und das ist die hohe Kunst der de Beauvoir, liest man den Roman atemlos. Ihr gelingt, woran Brecht gescheitert ist: Ein lesenswerter epischer Roman, dessen Dramatik sich aus einem Problem und seiner Diskussion entwickelt. Große Kunst und wieder einmal ist unklar, warum Sartre und nicht auch sie für den Nobelpreis vorgeschlagen war! Glatte 5 Punkte dafür, dass es wohl kaum einen Leser geben wird, der sich beim Lesen nicht dieselben Fragen selbst stellen muss und wird. Ich habe jedenfalls mich und meine Skrupel, die ich habe, seit ich vielleicht 16 war, wiedererkannt. Unbedingt empfehlenswert für alle diejenigen, die nicht glauben, interessant könne nur das jeweils Neueste sein.
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Das Blut der Anderen.
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December 29, 2019
– Shelved
December 29, 2019
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January 3, 2020
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January 5, 2020
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84.38%
"Wieder bin ich verliebt in die Fragestellung des Existentialismus. Im Ton erinnert der Roman an Schmachtfetzen der Hollywood- Vergangenheit; also war er in den 40ern des 20. Jahrhunderts so. Aber die Fragestellungen sind brisant und seit dem Ende des Hypes um den Existentialismus nur vergessen, aber nicht gelöst. Allein meine Existenz bestimmt schon das Leben Anderer. Darf ich auch noch für/über sie entscheiden?"
page
189
January 8, 2020
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Peter
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Jan 08, 2020 11:32AM

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