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Bogdan's Reviews > Alte Meister

Alte Meister by Thomas Bernhard
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Read 2 times. Last read December 14, 2021 to December 16, 2021.

Ein Buch über Liebe�

Und gerade die Liebe, an die sie jetzt glauben, fehlt. Es gibt naturgemäß keinen Eros in Bernhard. Aber ich werde euch zeigen, dass in diesem Buch alle anderen klassischen Formen der Liebe vorkommen, die von den antiken Griechen � den klügsten Menschen, die jemals die Erde betreten haben � erkannt und definiert wurden.

(Spannendes Intermezzo: Das scheinbare Hauptthema dieses Buches ist die Kunst. Alles Künstliche tritt sozusagen auf die Bühne, nur um meisterhaft verspottet und scharfzüngig von dem luziden und verzweifelten Kunstkritiker Reger ausgebuht zu werden. Aber diese Bühne hat einen Doppelboden: Weder die genialste Kunst noch die zugleich rationalste und tollste Kunstkritik können in einem verzweifelten Moment ein echter Trost sein. Kein alter Meister hilft und rettet dann. Nur ein anderer Mensch kann helfen und retten.)

Zuerst: Die augenfälligste Liebe zeigt sich naturgemäß in Regers Egoismus, der auf Griechisch „Philautia� oder „Selbstliebe� genannt wird. Diese steht in starkem Kontrast zu einer anderen Form der Liebe: Der einfältige und treue Saaldiener Irrsigler hält stets eine Bank vor dem Gemälde Der weißbärtige Mann von Tintoretto für seinen verehrten Mentor Reger frei � was selbstverständlich gegen die Museumsregeln verstößt, da alle Bänke immer für alle Museumsbesucher zugänglich sein sollen. Doch Reger möchte jeden Woche genau dort sitzen, um Der weißbärtige Mann zu betrachten. Irrsigler wiederum zeigt in seiner eifrigen Treue gegenüber dem Hauptgast des Museums die sogenannte „Xenia�, oder Gastfreundschaft:

Reger, der seit über sechsunddreißig Jahren das Kunsthistorische Museum aufsucht, kennt Irrsigler vom ersten Tag seines Dienstantritts an und steht zu ihm in einem durchaus freundschaftlichen Verhältnis. Es bedurfte nur einer ganz kleinen Bestechungssumme, um mir die Sitzbank im Bordone-Saal für immer zu sichern, so Reger einmal vor Jahren. Reger ist mit Irrsigler ein Verhältnis eingegangen, das den beiden schon seit über dreißig Jahren zur Gewohnheit geworden ist. Will Reger, was nicht selten der Fall ist, in der Betrachtung des Weißbärtigen Mannes von Tintoretto allein sein, so sperrt Irrsigler ganz einfach den Bordone-Saal für Besucher, er stellt sich dann ganz einfach in den Eingang und läßt keinen passieren. Reger braucht nur sein Handzeichen zu geben und Irrsigler sperrt den Bordone-Saal, ja er scheut sich nicht, im Bordone-Saal stehende Besucher aus dem Bordone-Saal hinauszudrängen, weil Reger das wünscht.


Außerdem besteht zwischen dem Saaldiener und Reger „Storge�, was sich mit „Liebe zwischen Vater und Sohn� oder, in diesem Fall, eher mit „Liebe zwischen Meister und Schüler� übersetzen lässt:

Seit Jahrzehnten wird von den Museumsführern immer dasselbe gesagt und natürlich sehr viel Unsinn, wie Herr Reger sagt, sagt Irrsigler zu mir. Die Kunsthistoriker überschütten die Besucher nur mit ihrem Geschwätz, sagt Irrsigler, der mit der Zeit viele, wenn nicht gar alle Sätze Regers wortwörtlich übernommen hat. Irrsigler ist das Sprachrohr Regers, fast alles, das Irrsigler sagt, hat Reger gesagt, seit über dreißig Jahren redet Irrsigler das, was Reger gesagt hat. Wenn ich genau hinhöre, höre ich Reger durch Irrsigler sprechen. Wenn wir den Führern zuhören, hören wir doch nur immer das Kunstgeschwätz, das uns auf die Nerven geht, das unerträgliche Kunstgeschwätz der Kunsthistoriker, sagt Irrsigler, weil es Reger so oft sagt.


Sowohl Reger, auf seine zynische Weise, als auch Atzbacher � Regers Freund und zugleich der Erzähler � kümmern sich um den einfältigen Irrsigler; sie zeigen Mitgefühl für ihn, also „Agape�.

Ist mir Irrsigler selbst der angenehmste Mensch, so ist mir die ganze Irrsiglerfamilie die unangenehmste. Wie kommt ein Mensch wie Irrsigler, so Reger, an eine Frau wie die Irrsigler, die eine so kreischende Stimme und einen so hennenhaften Gang hat. Wir fragen uns ja oft, wie kommen diese Leute zusammen, die sich vollkommen entgegengesetzt sind, so Reger. Eine Frau mit einer so hysterischen Tierstimme und mit einem so hennenhaften Gang und ein Mann wie Irrsigler, der so ausgeglichen und so angenehm ist.


Reger selbst ist verzweifelt über seine tragisch verlorene Partnerin und verlangt seinerseits nach Mitleid. Hier zeigt sich ein tief autobiografischer Moment und zugleich ein Schwanengesang, denn dies ist chronologisch Bernhards letzter Roman. Sein Sexualleben ist ein autobiografisches Mysterium. Marcel Reich-Ranicki, der bekannteste Literaturkritiker des deutschsprachigen Raums, behauptete in einer Fernsehsendung, dass Bernhard aufgrund seiner Lungenkrankheit zu keinem Sexualleben fähig gewesen sei.

Er hatte jedoch eine enge und merkwürdige Beziehung zu einer Frau, die 27 Jahre älter war als er: Hedwig Stavianicek. Sie war eine finanziell gut gestellte Witwe, die Bernhard unterstützte. Gemeinsam reisten sie oft nach Italien und Jugoslawien, wo das Klima gut für Bernhards Gesundheit war. Er stellte Hedwig als seine „Tante� und sich selbst als ihren „Kofferträger� vor. Im Grunde war sie jedoch eine echte Mäzenin und Mentorin für ihn. Dank ihrer Hilfe lernte er viele einflussreiche Persönlichkeiten der Wiener Kunstszene kennen und knüpfte wichtige Kontakte. Letztendlich war sie Bernhards wahre „Lebensmensch�, wie er es zu sagen pflegte. Sie starb kurz bevor er diesen Roman schrieb, und sein großes Leid über ihren Verlust wird in der Figur Regers personifiziert und durch dessen Worte wiederholt. Allein gelassen, dieser sarkastische und raffinierteste Mensch, der eine Art hohe Verwandtschaft mit den alten Meistern verspürt, gelangt zu einer sehr einfachen, konkreten und deshalb eindringlichen Erkenntnis: dass die Anderen das Einzige sind, was ihm bleibt und was er braucht:

Plötzlich wissen Sie, was das ist, Leere, wenn Sie unter Tausenden und Abertausenden von Büchern und Schriften stehen, die Sie vollkommen alleingelassen haben, die Ihnen aufeinmal nichts sind, als eben diese fürchterliche Leere, so Reger. Wenn Sie den nächsten Menschen verloren haben, ist Ihnen alles leer, Sie können hineinschauen, wo Sie wollen, alles ist leer und Sie schauen und schauen und Sie sehen, alles ist wirklich leer und zwar für immer, so Reger. Und Sie erkennen, nicht diese großen Geister und nicht diese Alten Meister sind es, die Sie Jahrzehnte am Leben erhalten haben, sondern daß es nur dieser eine einzige Mensch, den Sie wie keinen zweiten geliebt haben, gewesen ist. Und in diesem Erkennen und mit diesem Erkennen sind Sie allein und es hilft Ihnen nichts und niemand, so Reger. Sie sperren sich in Ihre Wohnung ein und verzweifeln, so Reger, und Sie verzweifeln von Tag zu Tag tiefer und Sie kommen von Woche zu Woche in eine noch verzweifeltere Verzweiflung hinein, so Reger, aber aufeinmal gehen Sie aus dieser Verzweiflung heraus. Sie stehen auf und gehen aus dieser tödlichen Verzweiflung heraus, noch haben Sie die Kraft, aus dieser tiefsten Verzweiflung herauszugehen, so Reger, ich bin plötzlich von dem singerstraßenseitigen Schemel aufgestanden und aus meiner Verzweiflung herausgegangen und auf die Singerstraße hinuntergegangen, so Reger, und ein paar hundert Meter in die Innere Stadt hineingegangen; ich bin vom singerstraßenseitigen Schemel aufgestanden und aus der Wohnung hinausund in die Innere Stadt hineingegangen in dem Gedanken, jetzt noch einen einzigen Versuch, einen Überlebensversuch zu machen, so Reger. Ich bin aus der Singerstraßenwohnung hinausgegangen und habe gedacht, ich mache noch einen einzigen Überlebensversuch und bin in diesem Gedanken in die Innere Stadt hineingegangen, so Reger. Und dieser Überlebensversuch ist geglückt, wahrscheinlich bin ich im entscheidenden und wahrscheinlich im allerletzten Moment von meinem singerstraßenseitigen Schemel aufgestanden und auf die Singerstraße hinunter- und in die Innere Stadt hineingegangen, so Reger. Natürlich habe ich dann, wieder zu Hause in meiner Wohnung, einen Rückschlag nach dem andern erlitten, das können Sie sich denken, daß es nicht mit diesem einen einzigen Versuch, zu überleben, getan war, ich mußte viele Hunderte solcher Überlebensversuche machen dann, aber ich habe sie immer wieder gemacht und ich bin immer wieder vom singerstraßenseitigen Schemel aufgestanden und auf die Straße gegangen und tatsächlich dann auch wieder unter Menschen, unter die Menschen gegangen und habe mich schließlich gerettet, so Reger.


Doch was mich am meisten beeindruckt, ist die Freundschaftsliebe oder „Philia� zwischen Atzbacher und Reger.

Warum kam Atzbacher, um Reger im Museum zu treffen, obwohl sie sich dort bereits am Tag zuvor gesehen hatten?

Erstens kam er einfach um ihn zu sehen, um Reger heimlich aus einem anderen Saal der Galerie zu beobachten, während dieser routinemäßig das Gemälde Der weißbärtige Mann von Tintoretto betrachtete:

Erst für halb zwölf Uhr mit Reger im Kunsthistorischen Museum verabredet, war ich schon um halb elf Uhr dort, um ihn, wie ich mir schon längere Zeit vorgenommen gehabt hatte, einmal von einem möglichst idealen Winkel aus ungestört beobachten zu können, schreibt Atzbacher.


Zweitens kam er, um � noch einmal! � all den Regerschen Vorträgen und Beschwerden zuzuhören (wer außer einem Freund könnte das tun?). Drittens tritt am Ende der geheime Grund Atzbachers zutage: Er kam, um Reger ins Theater einzuladen, ins Burgtheater, das sie beide verabscheuen. Er hatte zwei Karten für ein Theaterstück, Der Zerbrochene Krug. Die Vorstellung war naturgemäß „entsetzlich� (das ist � es gibt bei Bernhard keine möglichen Spoiler � das allerletzte Wort des Buches), aber sie gingen zusammen hin.

Ich denke, das ist es, was am Ende zählt. Ich denke, Atzbacher kam ins Museum, um seinen Freund zu retten.
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Reading Progress

January 21, 2020 – Started Reading
January 21, 2020 – Shelved as: read-in-german
January 21, 2020 – Shelved
January 30, 2020 – Finished Reading
December 14, 2021 – Started Reading
December 16, 2021 – Finished Reading
November 19, 2023 – Shelved as: mein-bernhard
November 20, 2023 – Shelved as: favorites
April 18, 2024 – Shelved as: worshiped

Comments Showing 1-13 of 13 (13 new)

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WillemC I came to very similar conclusions. Maybe "Alte meister" contains Bernhard's most human character? A defeated man who uses his cynicism to try and cover (not fill because art can't fill it) the gaping hole his wife's death left him with.

By the way, did you also burst out laughing after the final sentence? One of two or three times that has ever happened to me while reading.


Bogdan Well put, Willem! Precisely because Bernhard usually hides his gentle side, it comes out as surprising, convincing and touching in some very few instances of his work, like for example the declaration of love-hate (but finally, mostly love) to Vienna, at the ending of ‘Holzfällen� and here, in Reger’s enduring love for his dead wife � mirroring Bernhard's mourning for his “Lebensmensch�. Reger is the most humane, because he is his most personal character.

I laughed out loud even the second time around, anticipating the punch line.


ÅŸ²¹³ó²¹²Ô Irrsigler deserves a book of his own


ÅŸ²¹³ó²¹²Ô I'd say Wittgenstein's Nephew would suit more Lovish than this. This is more like grief, or disappointment.


Vesna Bogdan wrote: "Well put, Willem! Precisely because Bernhard usually hides his gentle side, it comes out as surprising, convincing and touching in some very few instances of his work, like for example the declarat..."

I found his gentle side coming through in all four of his novels I read. Even his curmudgeonry often comes from a good place in heart. He had zero tolerance for injustice, vanity, cruel indifference, etc.


Bogdan ÅŸ²¹³ó²¹²Ô wrote: "I'd say Wittgenstein's Nephew would suit more Lovish than this. This is more like grief, or disappointment."

I think I see why you found that book more "lovish", Șahan. :) The friendship between Thomas Bernhard and Paul Wittgenstein, that is right in the center of it, is more explored (and exposed) than the friendship here. But I personally prefer the subtler “philia� love between Reger and Atzbacher. Plus, in ‘Alte Meister �, there is this great variety of love forms that I could point to, with a little wise help from our good ancient Greeks ;). Furthermore, about grief: is that even possible without love?


Bogdan ÅŸ²¹³ó²¹²Ô wrote: "Irrsigler deserves a book of his own"

I also think so, Șahan! Maybe a good fanfiction idea? ;)


Bogdan Vesna wrote: "Bogdan wrote: "Well put, Willem! Precisely because Bernhard usually hides his gentle side, it comes out as surprising, convincing and touching in some very few instances of his work, like for examp..."

Very well observed, Vesna! There is always at least a bit of gentleness in Bernhard, shown towards some characters or people (a few figures mirror precisely some dear persons in his life, like Reger’s wife here, Joana in ‘Holzfällen�, or Paul Wittgenstein in the book mentioned by Șahan) � despite everything uttered against other characters that actually deserve to be despised. It's what led me, in my ‘Holzfällen� review, to call Bernhard an �Unmenschenhasser�, as opposed to a Menschenhasser (misanthrope) that a less attentive reader would see in him.


message 9: by Noam (new)

Noam A fascinating review, Bogdan, because of the insight regarding the book and at the same time into Bernhard's life. My fascination for Bernhard is growing. Should I stop reading books by other writers? life is just too short...


message 10: by Bogdan (last edited Jan 21, 2025 11:25AM) (new) - rated it 5 stars

Bogdan Noam wrote: "A fascinating review, Bogdan, because of the insight regarding the book and at the same time into Bernhard's life. My fascination for Bernhard is growing. Should I stop reading books by other write..."

Thank you, Noam! I'm glad that I'm alluring you little by little to his prose! I think you should stop reading other writers only for a while. Make a Bernhard-break, when you feel like it. This particular book would be a Bern-heart-break ;)


message 11: by Noam (new)

Noam Bogdan wrote: "Noam wrote: "A fascinating review, Bogdan, because of the insight regarding the book and at the same time into Bernhard's life. My fascination for Bernhard is growing. Should I stop reading books b..."

Maybe I should indeed take such a Bernhard-diet for a while, Bogdan. At the same time, I want to have enough space to enjoy each of his books fully. I’ll have to figure out how to find a balance between everything I want. That’s often my problem with reading books: It’s never enough! ;-)


message 12: by Gaurav (new) - added it

Gaurav Excellent review, Bogdan. I read afew books by Bernhard but this one remains elusive to me.. Shall try to pick it soon, thanks for sharing it :)


Bogdan Gaurav wrote: "Excellent review, Bogdan. I read afew books by Bernhard but this one remains elusive to me.. Shall try to pick it soon, thanks for sharing it :)"

Thank you, Gaurav! It’s indeed an elusive “Comedy� � as the book’s subtitle goes. Just like Dante’s ;)


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