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Wilde Schafsjagd
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Während der Lektüre dieses frühen, manche sagen ersten Romans von Murakami habe ich mir ein paar Dokustückchen über Hikikomori, Karoshi und dergleichen angeschaut: soziale Phänomene in Japan, die symptomatisch für die aus Konformismus und Leistungsgedanken entstandenen Probleme stehen. Abgehängte, Überforderte, Lebensmüde, sich selbst vorzeitig Wegrationalisierende.
Auch die Eigenart vieler Japaner, die eigenen Gefühle nicht außerhalb der Kernfamilie zu thematisieren (oder nicht mal hier + nicht jeder hat diese) tragen zur Isolation und psychischen Erkrankung bei. So sehr ich dieses Land bewundere, die sozialen Verwerfungen der Leistungsgesellschaft fern traditioneller Bindungen scheinen noch gravierender als hierzulande, wo sich eine laute Linke dafür auf die Fresse geben lassen muss, dass sie humane Verhältnisse auch für die Nicht-Führungsebene fordert. Danke, liebe gewerkschaftlich organisierte Sozialdemokratie.
Einen Zugriff auf die Vereinsamung haben wir in Deutschland leider ebenfalls nicht. Kirche und Kommunismus haben da beide nicht so abgeliefert. Schade.
Warum mache ich mir diese Gedanken, während ich ein recht schmales Buch lese, das die meisten Leser eher als vergnüglich denn als trist bezeichnen würden?
Weil mich die Frage beschäftigt, wie Murakami auch in Japan der Bestseller wurde. Welche Wünsche sticht er an, was schmeckt den einheimischen (und weltweiten) Lesern so gut?
Gar nicht einfach zu beantworten. Aber was auffällt, ist die mehrfach betonte Mittelmäßigkeit unseres namenlosen Helden, er scheint ganz passiv und wider Willen in sein Abenteuer um ein besonderes Schaf zu geraten. Weder als klug, noch lustig, charmant oder schön sieht er sich - ein Jedermann also. Das kokettiert mit uns. Außerdem legt Murakami eigentlich mehr Gewicht auf die Wiederholung von bekannten Elementen als auf rasante Plot-points. Immer wieder trinkt er Bier oder Whiskey, hört Jazz, liest Sherlock und Dostojewski, raucht Unmengen an Zigaretten und beglückt natürlich die Frauenwelt, die sich rasch in ihn verliebt. Dabei entsteht, ähnlich wie bei Camus, eine durchaus einnehmende Reihung sinnlicher Befriedigung, die vielleicht gerade aufgrund des Mangels an komplizierter Lebensziele für Leser so nachahmenswert ist. Obwohl der Murakami-Held kaum Sinn im Leben sucht /kennt, noch mit vielen Menschen zu tun hat, wirkt er zufrieden in seiner Mittelmäßigkeit. Dass unser Erzähler nicht reflektiert, macht den Stoff bündig und rasant, ihn selbst aber auch zur ungefüllten (oder leserwunschgefüllten) Hülle.
ACHTUNG: GEMÄẞIGTER SPOILER
Ganz dazu passend finde ich das Buch dort stark, wo es in der Schilderung eines Moments verharrt, zum Beispiel wenn ein Bier am Meeresstrand getrunken und wütend weggeworfen wird. Wenn er im Schnee auf Hokkaido ein Würstchen mit Ei brät und danach Conrad liest. Da schreibt Murakami pointiert und durchaus lustig, und das Gefühl entsteht im Leser. Bemerkenswert schwach finde ich hingegen seine Erklärungen der "magischen" Plot-Elemente. Da wird aus unserem kettenrauchenden, trinkenden Mersault-Epigonen rasch ein Wirtshausphilosoph, der mit Begriffen wie Zufall, Chaos, Ewigkeit um sich wirft. Auch das Ende (also die Aufdeckung des Ziels des Schafs) ist auf Trash-Niveau angesiedelt, oder was genau erklärt die erwünschte "Ausradierung aller Unterschiede"? Das wirkt dann eher so, als wäre die Story samt Auflösung eher Beiwerk.
Vorläufiges Fazit zu diesem Buch (das mich vor allem wegen seiner japanischen Provenienz sehr zum Grübeln anregt): Oft super geschrieben und mit einer zumindest oberflächlich definitiv einnehmendem Erzähler-Instanz ausgestattet, die aber (Japan-like?) nie über den inneren Fühl- und Grübelapparat berichtet (z. B. Scheidung von Ex) und deren Frauenbild auf der Therapie-Couch mal angesprochen werden sollte. Dieser Sexismus steckt Mura... ähh dem Erzähler so tief in den Knochen, dass er ihn sicher nicht bemerkt. Dazu mehr in meiner YT-Rezi.
6 von 10 Schafen
Auch die Eigenart vieler Japaner, die eigenen Gefühle nicht außerhalb der Kernfamilie zu thematisieren (oder nicht mal hier + nicht jeder hat diese) tragen zur Isolation und psychischen Erkrankung bei. So sehr ich dieses Land bewundere, die sozialen Verwerfungen der Leistungsgesellschaft fern traditioneller Bindungen scheinen noch gravierender als hierzulande, wo sich eine laute Linke dafür auf die Fresse geben lassen muss, dass sie humane Verhältnisse auch für die Nicht-Führungsebene fordert. Danke, liebe gewerkschaftlich organisierte Sozialdemokratie.
Einen Zugriff auf die Vereinsamung haben wir in Deutschland leider ebenfalls nicht. Kirche und Kommunismus haben da beide nicht so abgeliefert. Schade.
Warum mache ich mir diese Gedanken, während ich ein recht schmales Buch lese, das die meisten Leser eher als vergnüglich denn als trist bezeichnen würden?
Weil mich die Frage beschäftigt, wie Murakami auch in Japan der Bestseller wurde. Welche Wünsche sticht er an, was schmeckt den einheimischen (und weltweiten) Lesern so gut?
Gar nicht einfach zu beantworten. Aber was auffällt, ist die mehrfach betonte Mittelmäßigkeit unseres namenlosen Helden, er scheint ganz passiv und wider Willen in sein Abenteuer um ein besonderes Schaf zu geraten. Weder als klug, noch lustig, charmant oder schön sieht er sich - ein Jedermann also. Das kokettiert mit uns. Außerdem legt Murakami eigentlich mehr Gewicht auf die Wiederholung von bekannten Elementen als auf rasante Plot-points. Immer wieder trinkt er Bier oder Whiskey, hört Jazz, liest Sherlock und Dostojewski, raucht Unmengen an Zigaretten und beglückt natürlich die Frauenwelt, die sich rasch in ihn verliebt. Dabei entsteht, ähnlich wie bei Camus, eine durchaus einnehmende Reihung sinnlicher Befriedigung, die vielleicht gerade aufgrund des Mangels an komplizierter Lebensziele für Leser so nachahmenswert ist. Obwohl der Murakami-Held kaum Sinn im Leben sucht /kennt, noch mit vielen Menschen zu tun hat, wirkt er zufrieden in seiner Mittelmäßigkeit. Dass unser Erzähler nicht reflektiert, macht den Stoff bündig und rasant, ihn selbst aber auch zur ungefüllten (oder leserwunschgefüllten) Hülle.
ACHTUNG: GEMÄẞIGTER SPOILER
Ganz dazu passend finde ich das Buch dort stark, wo es in der Schilderung eines Moments verharrt, zum Beispiel wenn ein Bier am Meeresstrand getrunken und wütend weggeworfen wird. Wenn er im Schnee auf Hokkaido ein Würstchen mit Ei brät und danach Conrad liest. Da schreibt Murakami pointiert und durchaus lustig, und das Gefühl entsteht im Leser. Bemerkenswert schwach finde ich hingegen seine Erklärungen der "magischen" Plot-Elemente. Da wird aus unserem kettenrauchenden, trinkenden Mersault-Epigonen rasch ein Wirtshausphilosoph, der mit Begriffen wie Zufall, Chaos, Ewigkeit um sich wirft. Auch das Ende (also die Aufdeckung des Ziels des Schafs) ist auf Trash-Niveau angesiedelt, oder was genau erklärt die erwünschte "Ausradierung aller Unterschiede"? Das wirkt dann eher so, als wäre die Story samt Auflösung eher Beiwerk.
Vorläufiges Fazit zu diesem Buch (das mich vor allem wegen seiner japanischen Provenienz sehr zum Grübeln anregt): Oft super geschrieben und mit einer zumindest oberflächlich definitiv einnehmendem Erzähler-Instanz ausgestattet, die aber (Japan-like?) nie über den inneren Fühl- und Grübelapparat berichtet (z. B. Scheidung von Ex) und deren Frauenbild auf der Therapie-Couch mal angesprochen werden sollte. Dieser Sexismus steckt Mura... ähh dem Erzähler so tief in den Knochen, dass er ihn sicher nicht bemerkt. Dazu mehr in meiner YT-Rezi.
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Letterrausch
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Oct 04, 2022 11:56PM

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