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Semjon's Reviews > Kairos

Kairos by Jenny Erpenbeck
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Ein Buch, das mich zwiespältig zurück lässt. Ich fand es erst gar nicht in den Schreibstil hinein, der auf den ersten Seiten sehr abwechslungsreich war. Von kurzen, abgehakten Sätzen über einzelne Worte bis hin zu fließenden Gedanken war die Bandbreite groß. Erstaunlicherweise legt sich das im Verlauf des Buchs, und ich nahm eher wahr, dass die Sprache in den Hintergrund rückte und dafür Stil und Geschichte mehr Bedeutung gewannen.

Stilistisch fand ich es fesselnd, was aber stark zu Lasten der Liebesgeschichte ging. Zumindest nach meinem Geschmack. Was zunächst als eine außergewöhnliche Romanze aufgrund einer zufälligen Begegnung einer 19jährigen mit einem Schriftsteller über 50 Jahre begann, wurde im Verlauf aufgrund des dominanten und psychisch wie physisch brutalen Verhalten des Mannes immer skurriler. Bedingt durch das Lesen von Rezensionen im Vorfeld, war mein Augenmerk da schon auf die Parallelen des Beziehungsverlaufs zwischen Katharina und Hans auf der einen Seite und stellvertretend für die beiden Generationen in der DDR der 80er Jahre auf der anderen Seite gelegt. Diese sich durch fast das ganze Buch ziehende Allegorie ist wirklich originell. Der Lesereiz entwickelte sich bei mir dann dadurch, immer wieder wie so ein Metapherntrüffelschwein nach solchen Bildern Ausschau zu halten. Von dem Drang, des permanenten Feiern von Monats- und Jahrestagen in der Paarbeziehung bis zu den Überwachungsmaßnahmen des Alten und dem Misstrauen gegenüber dem Verhalten der Jungen gab es zahlreiche Beispiele, an denen sich Gesellschaft und Paar glichen, ihre Höhen erlebten und später dann scheiterten.

Aber die Allegorie erstickte für mich auch die Geschichte. Teilweise hatte ich das Gefühl, dass eine Schilderung einer realistischen Liebesbeziehung für den Stil und den Vergleich geopfert wurde. Ich empfand die Liebesgeschichte oft als reine Berichterstattung, der die Emotionen fehlte. Das Buch war daher für mich stellenweise kunstvoll, aber zu verkopft. Gerade als der Psychoterror und die Erniedrigungen durch Hans zunahmen, verlor mich das Buch wieder. Und am Ende ärgerte es mich sogar, denn als der Staat und die Beziehung zusammenbrechen, die Mauer fällt und die Autorin das Leben in den Folgejahren relativ zügig im Vergleich zum vorherigen Stil erzählt, ist von Allegorie nichts mehr zu finden. Stattdessen beklagt Katharina den Verlust ihres Staates, ihrer Heimat, an der sie doch aber gar nicht so sehr hing, als es ihn noch gab. Generell wird sich während es die DDR noch gibt, wenig mit dem Staat auseinandergesetzt in dem Buch. Der Fokus liegt sehr stark auf der Paarbeziehung. Am Ende wird sich dann sehr kritisch und vor allem teilweise dumm mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt (im Westen kann man viel besser klauen in Geschäften, da es ja die Ladenangestellten nicht interessiert. Wessis sind konsumgeil, Wessis sehen Menschen nur als Kundschaft, Wessis sind wohlparfümiert, Wessis und ihre Sexshops). Wäre doch nur mit dem Fall der Mauer das Ende des Buchs erreicht gewesen, dann hätte ich das Buch nicht quer durch den Raum werfen müssen nach dem Lesen.

Aufgrund der zwiespältigen Eindrücke mache ich es mal wie ein GR-Freund bei der Bewertung und beurteile einzelne Kriterien:
Sprache 4/5
Stil 5/5
Geschichte 2/5
Unterhaltung 2/5
Aussage 1/5
--> macht 2,8 Sterne.

Ich kann nun verstehen, warum Frau Erpenbeck mehr Beachtung im Ausland als im Inland bekommt. Sie kann wirklich gut schreiben. "Gehen, ging, gegangen" gefiel mir ziemlich gut. Ihr DDR-Buch zeigt aber, wie unterschiedlich Wessis und Ossis sich auch nach 35 Jahren wahrnehmen. Es ist kein Buch, welches Gräben schließt, sondern bestehenden Differenzen aufzeigt. Wahrscheinlich hat man es da als ostdeutsche Autorin im westdeutsch geprägten Literaturbetrieb schwer, Gehör und Verständnis zu finden. Wenn ich aber lese, dass sich ihre Hauptfigur beklagt, warum man die Einsicht in die Überwachungsakten nur im Osten der Gesellschaft aufdrückt, es aber damals nach der Nazi-Herrschaft nicht tat, muss ich den Kopf schütteln. Wahrscheinlich hat man aus der Geschichte gelernt. Im Nachhinein würde man vieles anders machen, wenn man das Ende einer geschichtlichen Periode kennt, ob es den gelebten Sozialismus, die Wiedervereinigung oder die Pandemie betrifft. Vielleicht sollten wir unsere Gedanken mehr dahin lenken, wo es uns Erich Honecker schon gelehrt hat: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer". Lösung suchen, wie wir zusammenfinden. Und der Bundestrainer hat ja auch gesagt, dass wir mit dem Gejammer aufhören sollen...
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Reading Progress

June 1, 2024 – Shelved
July 9, 2024 – Started Reading
July 14, 2024 –
page 108
28.5% "Gefällt mir sicher nicht, dachte ich. Tat's dann auch nicht nach den ersten Seiten. Diese Stakato-Sätze. Dann wechselt der Stil wild hin und her. Warum? Ich konnte keinen Zusammenhang erkennen. Das Liebespaar war mir egal, wegen der emotionslosen Schreibe.

Doch dann reifte das Buch in mir. Es bekam eine Atmosphäre. Besser gesagt, ich war nach längerem Einlesen offen dafür. Das Buch will gelesen werden. Alla hopp."
July 18, 2024 – Finished Reading

Comments Showing 1-3 of 3 (3 new)

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Alexander Carmele Heftige Besprechung, Semjon, da wird ja viel aufgewirbelt, insofern finde ich die disparate Beurteilung durchaus gelungen, du nicht? Mich rettet das oft vor allzu schizophrenen Lektüreerfahrungen, dass ich herausklambüsere, was passt, und was mich betroffen zurücklässt. Ist lange her, dass ich ein Buch durchs Zimmer geworfen habe ... mich hat vor allem Katharinas Abschluss mit Hans überzeugt, der verloren gegangene Glaube an die Utopie. So habe ich es in Erinnerung. Müsste es dann nochmal lesen. Aber hier: als ein Phönix aus der Asche der Selbstermächtigung fand ich es gelungen. Sie geht nicht zur Beerdigung. Danke für die lebhafte Rezension!!


Semjon Danke, Alexander. Ich muss zugeben, dass es ein Ritual bei mir ist, Bücher nach dem letzten Satz mit Schwung von mir zu werfen (bis auf eBooks). Wurflänge und Heftigkeit variieren je nach Gefallen und Missfallen. 3 Sterne ist eine ordentliche Note. Insofern war die Wurf weit, aber sachte mit einem katzeerschreckenden Klatschen auf dem Eichenparkett.

Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert, was ich zu erwähnen vergaß.


Alexander Carmele Semjon wrote: "Danke, Alexander. Ich muss zugeben, dass es ein Ritual bei mir ist, Bücher nach dem letzten Satz mit Schwung von mir zu werfen (bis auf eBooks). Wurflänge und Heftigkeit variieren je nach Gefallen ..."

Finde ich gut, solche Rituale! Ein Exerzitium. Ich glaube, mir fallen immer die Augen zu, dann lege ich die Beine hoch, blinzle in die (vorhandene oder nicht vorhandene) Sonne, atme durch und frage mich, was ich denke, und schlafe dabei kurz dösend ein.


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