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Hendrik's Reviews > Kompass

Kompass by Mathias Énard
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20216992
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Der Orient, das sind wir selber. Im Grunde bringt dieser Satz auf den Punkt, wofür Mathias Énard in seinem Roman mehrere hundert Seiten braucht. Eingebettet in eine Rahmenhandlung über einen (nicht nur) liebeskranken Wiener Musikwissenschaftler, erzählt das Buch vom Verhältnis zwischen Orient und Okzident. Ein Begriffspaar, mit dem üblicherweise ein Gegensatz, nämlich der zweier getrennter Sphären, assoziiert wird. Énard positioniert sich explizit gegen dieses vereinfachende Weltbild, indem er die mannigfaltigen Berührungspunkte und gegenseitigen Einflüsse zwischen den beiden Kulturräumen aufzeigt. Dafür schüttet er ein Füllhorn enzyklopädischen Wissens aus den Bereichen Geschichte, Politik und Kunst über dem manchmal überforderten Leser aus. Das ist einerseits faszinierend, welche ungeahnten Verbindungen sich da auftun, bedarf aber auch einer gewissen Bereitschaft, sich in die Details einzuarbeiten.

Unschwer erkennbar ist sein Roman durch den französischen Poststruktualismus beeinflusst. Insbesondere durch Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Konzept der Rhizomatik. Das Rhizom (Wurzelgeflecht) als Modell der Wissensorganisation und Welterklärung, bildet quasi das Fundament des ganzen Buchs. Aus der Biografie Mathias Énards ist zu entnehmen, dass er selbst Orientalist ist und am Institut national des langues et civilisations orientales (INALCO) Arabisch und Persisch studiert hat. Insofern nicht verwunderlich, dass er seinen im Milieu der Orientalistik angesiedelten Roman, gleich auf das entsprechende wissenschaftstheoretische Fundament gestellt hat. Wenn man das berücksichtigt, erklären sich auch einige der Schwierigkeiten bei der Lektüre. Man muss sich als Leser von gewohnten Mustern hierarchischer Ordnungen in der Erzählung lösen. Die einzelnen Namen, Fragmente und Abschweifungen im Buch ergeben am Ende ein großes Ganzes (wenn man denn so lange durchhält). Welche Querverbindungen man zieht oder wie man die Informationen gewichtet, wird einem als Eigenleistung beim Lesen auferlegt.

Kompass ist eine klare Absage an die Vorstellung von homogenen, gegeneinander abgrenzbaren Kulturräumen. Ein Gegenmodell zu simplifizierenden Weltbildern, wie sie etwa von rechten identitären Bewahrern des Abendlandes oder den islamistischen Kämpfern des IS propagiert werden. Den Anspruch eine andere, differenzierte Sicht zum Komplex Orient/Okzident zu vermitteln, löst das Buch zweifellos ein. Allerdings ist die Einbindung der Fakten in die fiktionale Rahmenhandlung, meiner Meinung nach nicht immer gut gelungen. Zu oft hat man den Eindruck eher ein Sachbuch zu lesen, als einen Roman. Insgesamt fand ich das Buch aber sehr interessant und anregend.
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Reading Progress

October 1, 2019 – Started Reading
October 1, 2019 – Shelved
October 3, 2019 –
11.0%
October 8, 2019 –
35.0%
October 9, 2019 –
49.0%
October 11, 2019 –
71.0%
October 12, 2019 –
85.0% "6 Uhr 00 � Der Morgen graut. Das Ende naht."
October 15, 2019 – Finished Reading

Comments Showing 1-5 of 5 (5 new)

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Steffi Chapeau! Du hast ja schon allerhand geschafft.


message 2: by Hendrik (last edited Oct 13, 2019 11:08AM) (new) - rated it 4 stars

Hendrik Ab der Syrienepisode ging es flüssiger voran. Man sollte dem Impuls widerstehen, jedem kleinsten Detail gleich nachforschen zu wollen. Gegen Ende fügen sich die meisten Einzelheiten irgendwie zu einem Ganzen. (Oder auch nicht.)


Gavin Armour Vielen Dank für diese wunderbare Rezension dieses besonderen Buches.

Und danke für den Hinweis auf das Rhizom - genau so ist es, genau diese Figur liegt dem allen zugrunde!


Hendrik Gavin wrote: "Vielen Dank für diese wunderbare Rezension dieses besonderen Buches.

Und danke für den Hinweis auf das Rhizom - genau so ist es, genau diese Figur liegt dem allen zugrunde!"


Danke, Gavin. In der Tat ein besonderes Buch, dem kann ich nur beipflichten. Mit ein wenig Abstand werde ich es bestimmt noch einmal lesen.


Maria Wie schön! Deine Rezension erklärt mir ziemlich gut warum ich das Buch so gerne möchte!


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